Impfpflichtdebatte – Tötungsaufrufe in Chatgruppen häufen sich
Personen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Behörden und Medizin werden zur Zielscheibe
JOURNAL | ots / NDR | In Deutschland wird seit Tagen über vermeintliche Einzelfälle von Tötungsaufrufen aus der Querdenker-Szene diskutiert. Eine Recherche von tagesschau.de in geheimen und offenen Telegram-Chatgruppen zeigt nun, dass es seit Mitte November täglich Tötungsaufrufe gibt – gegen Personen aus Politik, Wissenschaft, Medizin, Behörden und Medien.
In einer Auswertung vom 1. November bis 31. Dezember 2021 gab es in den untersuchten Chaträumen mehr als 250 Tötungsaufrufe. Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisberges, da sich Telegram – anders als Twitter – nicht komplett durchsuchen lässt, sondern nur die Kanäle und Chats, in denen man selbst Mitglied ist. Die meisten Chatgruppen sind geheim und können nur mit einem Einladungslink betreten werden. Lediglich an drei Tagen Anfang November konnte in den untersuchten Chaträumen kein Tötungsaufruf gefunden werden, an dem nicht ein Galgen, eine Guillotine oder ein Strick für Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Ärzt*innen, Polizist*innen oder Journalist*innen gewünscht wurde.
Verbreitet wurden die Tötungsaufrufe sowohl in geheimen als auch in offenen Chatgruppen, oftmals sogar unter dem mutmaßlich richtigen Namen. Widerspruch gab es selbst in großen Chats mit mehr als 50.000 Mitgliedern fast nie. Über Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer heißt es am 31. Dezember beispielsweise: „Kretschmer und seine Söldner [Anm. der Redaktion: Polizisten] gehören Hingerichtet [sic!] wegen Hochverrat an das Volk!!“ In einem anderen Chat fragt ein User am 21. Dezember, ob er Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) „abknallen“ dürfe. Doch nicht nur Kretschmer und Buschmann sind Opfer dieser hemmungslosen Gewaltaufrufe, auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), CDU-Chef Friedrich Merz, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) werden teilweise mehrfach genannt.
Ein Telegram-Chat, in dem sich vorgebliche Soldaten und Reservisten austauschen, fällt durch häufige Tötungsaufrufe auf. Die fast 20 Aufrufe zur Tötung anderer Personen zeigen, dass der Ende Dezember bekannt gewordene Aufruf des Gebirgsjägers Andreas O. kein Einzelfall ist. In einem Video hatte der Soldat aus Bad Reichenhall gedroht: „Eure Leichen wird man auf Feldern verteilen.“ In der „Soldaten & Reservisten“-Gruppe auf Telegram heißt es beispielsweise am 15. November über die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU): „Die Alte gehört abgeknallt.“
Doch nicht nur Politiker werden bedroht. Auch über eine im vergangenen Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Wissenschaftsjournalistin heißt es in einer Telegram-Chatgruppe: „Wir werden auch sie eines Tages hängen […].“ In einem Beitrag, der an die Drohung angehängt wurde, hatte sich die Journalistin und Moderatorin für eine Impfpflicht ausgesprochen.
Erst am Montagabend versammelten sich in Berlin Hunderte Menschen vor dem ZDF-Hauptstadtstudio und riefen „Lügenpresse“-Parolen. Das Gebäude musste laut Darstellung eines Reporters der Zeitung „Der Tagesspiegel“ von einer Polizeikette geschützt werden. Der Hass gegenüber Medien findet sich auch auf Telegram wieder. So schreibt ein User am 5. November: „Vielleicht sollten wir wirklich die ARD und das ZDF abfackeln um ihre Medienpropaganda Maschine kaputt zu machen.“ Ein anderer Nutzer fragt am 11. Dezember: „Warum brennen die Medien noch nicht, ich meine die Gebäuden […] wo der dreck ausgestrahlt wird?“ Ein Artikel der Süddeutschen Zeitung wird kommentiert mit: „Macht den Propaganda Laden dem Erdboden gleich. Volksverräter an den Galgen“.
Der Politikwissenschaftler Josef Holnburger vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMas) hält die Mordaufrufe für gefährlich. Im Gespräch mit tagesschau.de sagt er: „Menschen mit einem verschwörungsideologischen Weltbild sind eher gewillt, Gewalt einzusetzen – das wissen wir aus der bisherigen Forschung dazu, und zwar schon seit einigen Jahren“. Widerspruch fände sich in der Szene selten, „auch weil man das Bild einer einheitlichen Bewegung vermitteln will“.