Kolumne | „Oma, erzähl mir was vom Krieg“
Waren die Erzählungen der Großeltern nicht Warnung genug?
Michael H. Schmitt | Wer, so wie ich, Mitte der 1950er Jahre geboren und in einer Region aufgewachsen ist, in der Ende des 2. Weltkriegs die alliierten Streitkräfte annähernd jedes Wohngebäude und jede Industrieanlage zerbombt hatten, der hat auch noch an den übrig gebliebenen Gebäuden die tiefen Einschusslöcher gesehen, die Granatwerfer und Gewehrgeschosse hinterlassen haben. Ich erinnere mich sehr gut an die kleine Bergarbeitersiedlung in direkter Nähe zum Bergwerk Graf Bismarck. Dort standen diese kleinen, roten Ziegelsteinhäuser in einer ruhigen Gasse. Kaum eines dieser Häuser, deren Gemäuer nicht diese tiefen Einschusskrater zeigten. Erst einige Jahre später verschwanden Zug um Zug diese trichterförmigen Ausbuchtungen. Nach und nach wurden so diese letzten sichtbaren Zeichen des zurückliegenden Krieges ausgelöscht.
Angesichts der furchtbaren Nachrichten über die Gräueltaten in der Ukraine, die nun – beinahe 77 Jahre nach Ende dieses Krieges – ununterbrochen die Nachrichten beherrschen, werden Erinnerungen an die Erzählungen meiner Großmutter wach. Ich erinnere mich an meine Neugier, daran, dass ich wissen wollte, wie das Leben im Krieg für die Menschen jener Zeit war und wie sie damit umgegangen sind.
Meine Großmutter (1905 – 1997) hatte gleich zwei furchtbare Kriege erleben und überleben müssen. Sie war eine ruhige, besonnene und vor allem eine von ihren Erlebnissen geprägte, starke Frau. Wenngleich sie niemals ohne Aufforderung dieses Thema angesprochen hat, beschrieb sie mir anschaulich ihr Leben zwischen Trümmern, Bomben und Gewehrsalven. Nur auf mein drängendes Bitten mit den Worten: „Oma, erzähl mir was vom Krieg“, erzählte sie mir ihre Geschichte – mit tränengefüllten Augen und gelegentlich versagender Stimme.
Das, was ihr ein bleibendes Trauma beschert hatte, waren die Fliegerangriffe und die tausendfachen Detonationen explodierender Bomben, die über dem Ruhrgebiet, dem Herz Hitlers Rüstungsindustrie, abgeworfen wurden. Begonnen hatten diese Bombardements im Jahr 1943 und endeten erst mit der Kapitulation der Deutschen im Mai 1945.
Von ihrem Wohnhaus (eine ruhige Seitenstraße in Gelsenkirchen-Erle) bis zum nächstgelegenen Schutz-Bunker waren es nur wenige hundert Meter. „Als die Bombardements begannen, blieb nach dem ausgelösten Fliegeralarm kaum Zeit, den rettenden Bunker zu erreichen. Ich bin mit Deiner Mutter und ihrer Schwester (11 und 3 Jahre jung) losgerannt und schon ein paar Sekunden später tauchten die Tiefflieger auf, die auf alles schossen, was sich am Boden bewegte. Also auch auf uns“, berichtete sie ruhig, aber auch fünfzehn Jahre nach Kriegsende noch immer sichtlich bewegt und beeindruckt von dem Erlebten.
Sobald die Bombenabwürfe weit genug entfernt und die Tiefflieger abgezogen waren, ging es mit den Kindern wieder zurück ins Haus, berichtete sie weiter. Dieses Prozedere habe sich sich dann zum Kriegsende an Intensität zunehmend und in immer kürzeren Zeitabständen wiederholt, so dass sie sich selbst bereits aufgegeben hatte. Sie schickte ihre Töchter in den Bunker und verharrte selbst in der eigenen Wohnung, um vielleicht doch noch das Wenige zu retten, was in der Wohnstube übrig geblieben war. „Ich ging nicht einmal mehr in den Keller, um dort Schutz zu suchen. Mir war zum Schluss alles irgendwie egal“, beschrieb sie ihren Gemütszustand zu jener Zeit. „Sollten mich doch die Bomben treffen. Hauptsache, meine Kinder können sich retten und würden diese grausame Zeit überleben – allein schon, um den nachfolgenden Generationen von dieser schrecklichen Zeit zu berichten. So ein Irrsinn darf sich doch niemals wiederholen“, waren ihre Worte, mit denen sie zum Ausdruck brachte, wie zermürbend das Leben in Zeiten des Krieges war.
„Diejenigen, die nah genug an einem der Fördertürme wohnten, flüchteten in die unterirdischen Stollen der Bergwerke, um dem fortdauernden Bombenhagel zu entgehen. Und doch haben unzählige Menschen im Ruhrgebiet, auch im eigenen, unmittelbaren Umfeld, das Ende des Krieges nicht erlebt. Sie waren entweder von Splittern der Bomben und Granaten getroffen oder von den Maschinengewehren der Tiefflieger getötet worden. Die Angriffe der Alliierten richteten sich vor allem gegen die Moral der Zivilbevölkerung, steht es heute in den Geschichtsbüchern. Und sie erreichten ihr Ziel. Wie sich die Geschehnisse mit den aktuellen Ereignissen doch ähneln.
Ja, ich muss gerade jetzt sehr oft an die vielen, mahnenden Worte meiner Großmutter denken. So wie sie es tat, haben viele Großeltern ihre Erlebnisse und Erfahrungen wohl mit ihren Nachkommen geteilt. Nicht nur hierzulande, sondern vermutlich in allen Teilen dieser Welt, auch in Russland.
Haben wir denn gar nichts aus diesen Erzählungen gelernt?
Waren die Warnungen unserer Großeltern nicht deutlich genug? Und ja, ich mache mir Sorgen um unsere Zukunft – weniger um meine eigene als vielmehr um die unserer Kinder. Der Irrsinn muss sofort aufhören, bevor es wirklich zu spät ist und auch wir uns in Kellern verkriechen müssen – so, wie es meine Großmutter tat und so, wie es jetzt in dieser Sekunde Menschen in der Ukraine tun. Gott möge ihnen beistehen.