Priorisierung privater Verbraucher | Werden bisherige Regelungen nun doch gekippt?

Priorisierung privater Verbraucher | Werden bisherige Regelungen nun doch gekippt?
Symbolbild

Wirtschaftsminister Habeck vollzieht Kehrtwende

JOURNAL | pd/bd | „Das schlägt dem Fass den Boden aus“, mag manch einer beim Thema „Priorisierung bei der Gasversorgung“ denken, der die Meldungen des gestrigen Tages (Montag, 11.07.2022) mit denen von heute vergleicht. Kaum 24 Stunden ist es her, dass der Präsident des Verbandes der chemischen Industrie (VCI), Christian Kullmann, in einem Statement gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ die Versorgung privater Haushalte bei der Zuteilung im Falle einer Gas-Mangellage vor der Industrie in Frage gestellt hat. Nach seiner Einschätzung sei die Sicherung der Arbeitsplätze und damit das Einkommen für die Familien sehr wichtig und stünde für die Gesellschaft höher als die vollständige Sicherstellung der privaten Gasversorgung.

Habeck vollzieht Rolle rückwärts

Nun, einen Tag später, bläst Wirtschaftsminister Robert Habeck (GRÜNE) plötzlich ins gleiche Horn, nachdem er über Wochen hinweg betont hatte, dass zunächst die privaten Haushalte versorgt würden und erst nachrangig die Industrie. Plötzlich steht bei einer möglichen Gasknappheit nicht fest, die Verbraucher zu priorisieren. „Wir müssen neu nachdenken. Private Haushalte müssten auch <<ihren Anteil>> leisten“, sagte Habeck nun bei einem Besuch in Wien.

Die Priorisierung bei der Energieversorgung ist das wohl komplexeste Betätigungsfeld für diejenigen, die den „Notfallplan Gas“, sofern die Notfallstufe erklärt wird, umsetzen müssen. Die Auswirkungen der Umsetzung unter Einhaltung der einschlägigen Verordnungen hätten lange vor dem nun nahestehenden „Super Gau“ auf den Prüfstand gehört und nicht erst jetzt.

Dass Habeck nun nach wochenlang andauernden, gegensätzlichen Beteuerungen eine rasante Rolle rückwärts hinlegt und diese Kehrtwende dann versucht, mit wenig plausiblen Argumenten zu rechtfertigen, dürfte den Bürgerinnen und Bürgern, die schon jetzt mit großen Befürchtungen dem kommenden Winter entgegen sehen, ganz übel aufstoßen.

Problemberg für Bundesnetzagentur

Dass sich aus dieser prekären „Situation auch Chancen im Hinblick auf den rascheren Ausbau der erneuerbaren Energien ergeben könnten“, so Habeck, wird die Millionen Haushalte kaum überzeugen und auch kaum beruhigen können. Die zur Verfügung stehende Zeit dürfte kaum ausreichen, ein derart komplexes Verfahren nun innerhalb weniger Wochen komplett umzukrempeln, selbst dann nicht, wenn es hinreichend Argumente gäbe, die möglicherweise dafür sprächen. Die Argumente des Verbandschefs mögen nicht von der Hand zu weisen sein und würden vielleicht sogar bei einer Pro- und Contra-Betrachtung pari ausgehen. Sie kommen allerdings zur Unzeit und inmitten der eingetretenen, akuten Gefahrenlage deutlich zu spät.

Sollte die Bundesnetzagentur als ausführendes Organ sich bislang auf die vorhandenen Handlungs-Empfehlungen gestützt und für das Worst-Case-Szenario vorbereitende Maßnahmen zur Energieverteilung getroffen haben, dürfte die nun angestoßene Diskussion die Behörde und ihre Mitarbeiter wohl in helle Aufregung versetzen und vor einen mächtigen Problemberg stellen. Im Falle einer Umkehrung der Priorisierung hieße das für die Bundesbehörde, binnen kürzester Zeit einen komplett neuen Maßnahmenkatalog zu erstellen und diesen dann auch noch zeitgerecht umzusetzen – eine kaum lösbare Herausforderung.


Die dritte Stufe (Notfallstufe) tritt dann in Kraft, wenn der folgende Zustand bei der Gasversorgung eintritt:

Es liegt eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas, eine erhebliche Störung der Gasversorgung oder eine andere beträchtliche Verschlechterung der Versorgungslage vor und es wurden alle einschlägigen marktbasierten Maßnahmen umgesetzt, aber die Gasversorgung reicht nicht aus, um die noch verbleibende Gasnachfrage zu decken, sodass zusätzlich nicht marktbasierte Maßnahmen ergriffen werden müssen, um insbesondere die Gasversorgung der geschützten Kunden gemäß Artikel 6 sicherzustellen.“

Quelle: Auszug „Notfallplan Gas“

Die Maßnahmen ergeben sich sowohl aus der EU-VO sowie aus den nachfolgend aufgeführten, nationalen Gesetzen:

  • Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsgesetz – EnWG)
  • Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung (Energiesicherungsgesetz 1975 – EnSiG)
  • Verordnung zur Sicherung der Gasversorgung in einer Versorgungskrise (Gassicherungsverordnung – GasSV)

Ein Beitrag von Michael H. Schmitt

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